Mein
Leben ohne
Schule
ein
Gespräch mit André
Stern
André Stern, Sohn des
Forschers und Pädagogen Arno
Stern, wurde 1971 in
Paris geboren. Er ist einer der Protagonisten in "Denn
mein Leben
ist Lernen" des Schweizers Olivier Keller. Seine Eltern schreiben
dort: "Es war uns ein
Anliegen, dass unsere Kinder
nicht
in ihrer Persönlichkeit eingeschränkt würden. Auch
wollten wir ihre Entwicklung
in allen Details miterleben." In diesem Interview beantwortet
André einige der klassischen Fragen, mit denen er angesichts
seines ungewöhnlichen Bildungsweges immer wieder konfrontiert
wird. Die Fragen wurden so formuliert, wie sie ihm
häufig gestellt werden, wenn Menschen hören, dass er keine
Schule besucht hat...
Wie
viele Stunden hast Du insgesamt in der
Schule zugebracht?
Gar keine. Nicht einmal
eine Minute, nicht einmal eine Sekunde meiner Kindheit. Erst seitdem
ich mich
mit diesem Thema auseinandersetze, besuche ich Schulen, halte mich
darin auf
und beobachte, was darin so geschieht. Und zwar bin ich einer der
wenigen, die
die Schule wirklich von außen betrachten können. Meine
Ansicht beruht auf
eigenen Feststellungen, nicht auf übernommenen Meinungen oder
Gewohnheiten.
Ähnlich kann ich Schule
mit Nicht-Schule vergleichen; umgekehrt
können das aber Schulkinder nicht,
da ihnen diese Möglichkeit nie zur Wahl steht.
Womit
hast Du dann als Kind Deine Zeit verbracht?
Der
Alltag, erfüllt mit
Erleben und Spielen, verlief ganz selbstverständlich und
glücklich (Spielen und
Lernen sind in meiner Erfahrung synonym).
Ich
denke, daß dies
einer der wichtigsten Punkte ist: ich war ein sehr glückliches,
begeistertes
Kind. Ich verlor keine Energie, keine Zeit mit Fremdauferlegtem.
Dies erklärt auch, warum die
Gestaltung des
Alltags
so locker und ästhetisch war, obwohl eine "typische Woche", neben
den üppigen
"improvisierten" Stunden, aus vielen, regelmäßigen
Tätigkeiten bestand, weit
entfernt von jeglichem Leistungsdrang oder Streß (für mich,
mit etwa 12 Jahren:
im Malort malen, Kurse in den verschiedensten Bereichen; 2 x 3 Stunden
Metalltreiben, 4 Stunden Fotografie (Technik, Labor), 2 x 2 Stunden
Tanz, 2
Stunden Kampfsport (Kalarripayat), weitere Kurse in Textilkunst,
Töpferei,
Algebra; Lesungen im Collège de France über
Ägyptologie, Mittelalter und
Soziologie – und vieles mehr).
Die
anderen Stunden (die
"improvisierte") bestanden aus
einer unfaßbaren Anzahl von
Beschäftigungen,
die erstens zu zahlreich, zweitens zu verschieden, drittens zu
unsichtbar (Teil
eines inneren Prozesses) waren, um sie überhaupt aufzulisten.
Dazu waren viele
Beschäftigungen zeitweise besonders intensiv und vorrangig. In den
Monaten, in
denen ich mich leidenschaftlich der Literatur widmete, blieb mir wenig
Zeit für
andere Tätigkeiten übrig, zumal ich dann jeweils das gesamte
Werk und mehrere
Biographien eines Autors las.
Mit der Musik ging ich
noch intensiver vor: nicht nur hörte ich auch da alle Werke
mehrerer
Komponisten durch und las ihre Biographien: ich lebte mich regelrecht
in die
Musik hinein, wurde von ihr auf unglaubliche Reisen mitgenommen. Von
Dvorak,
Brahms, Schubert, Beethoven, Schumann, Franck kannte ich alle Werke,
alle
Sätze, alle Interpretationen, hatte meine bevorzugten Stücke,
meine
Lieblingsmusiker, konnte sie im Radio nach einigen Noten erkennen – ein
Lieblingsspiel mit meinem Papa. Da ich nicht zur
Schule gehen mußte, da das Musikhören bei
uns nicht als
Zeitvertreib betrachtet wurde, sondern als Hauptbeschäftigung, war
es auch für
alle ganz selbstverständlich, daß ich mich dieser
nährenden Tätigkeit 8 Stunden
pro Tag widmete. Die absolute Konzentriertheit, die Emotionen, die ich
damals
erlebte, bleiben für mich die eindrücklichsten Momente meiner
Kindheit.
Manche unbeschulte
Kinder leben ganz frei in den Tag hinein, andere stellen sich eine Art
"Stundenplan"
zusammen. Ich habe mir schon immer strukturierte Momente gestaltet. Die
Gewohnheit, ausnahmslos jeden Morgen um sechs Uhr aufzustehen und zu
üben, habe
ich schon sehr früh eingeführt, und halte mich heute noch
daran. Sprachen
lernte ich jeden Morgen, nach dem Frühstück (außer bei
der deutschen Sprache,
da habe ich wiederum solche Leidenschaft empfunden, daß ich 6
Stunden pro Tag
lernte – die Möglichkeit war wiederum gegeben – und als ich nach 4
Monaten
fertig war… da ging die Leidenschaft für die deutsche Literatur
los!).
Für mich enthält der
Satz: "Womit hast Du als Kind Deine
Zeit
verbracht" (ein Klassiker) viele unzutreffende Begriffe: "Womit" klingt in meinen Ohren
schrecklich materiell, "als Kind" ist
eine für mich unnatürliche
Unterscheidung, "Deine Zeit verbracht"
besitzt einen leicht zweifelnden Beigeschmack und bedeutet für
mich eine
Verkehrung der Realität, da man die Zeit nicht verbringt, sondern
dem mehr oder
weniger aufmerksam beiwohnt, wie sie an einem unaufhaltsam vorbeizieht.
Hast Du nicht manchmal den
Kontakt zu anderen Kindern
vermisst?
Ach,
diese Frage! Der Klassiker unter den Klassikern!
Darf ich als erstes
eine kleine Gegenfrage stellen? Warum sollte denn der Kontakt zu
anderen
Kindern so wichtig sein? Ist nicht vielmehr der Kontakt zu anderen
Menschen
lebenswichtig?
Immer wieder diese
unnatürlichen Unterteilungen…
Wenn
man Kinder als
eine bestimmte Kategorie betrachtet (und behandelt), so ist es
klar, daß sie
von den anderen Gattungen separiert sind und mit denen keinen direkten
Kontakt
haben. So sind sie reif für den vorbestimmten, berühmten
„Kontakt zu anderen
Kindern“. Wer findet das natürlich? Ich nicht! Wer bestimmt die
Zugehörigkeit
der einen oder der anderen Gattung? Das Alter? Wer glaubt heute noch,
daß das
Alter die Entwicklung, die Reife bestimmt?
Erleben
Schulkinder,
die in einer klimatisierten Klasse mit Gleichaltrigen eingesperrt sind
und
uniform mit demselben fremdbestimmten, synthetischen
Kenntnisdünger besprüht
werden etwa Sozialisation?!
Ich hatte ständigen
Kontakt zu anderen – älteren, jüngeren – und genau diese
Vielfalt war
GEGENSEITIG bereichernd. Ich hatte von allen etwas zu lernen, sowie ich
anderen
vieles zeigen konnte.
Ich
konnte meine
Freunde aussuchen, und sie mich. Das Leben und unsere Wege bestimmten
unsere
Begegnungen, sie waren echt und nicht die willkürliche Konsequenz
einer
zufälligen Geburt am selben Ort um dieselbe Zeit, wie das in einer
Schulklasse
(und zwar für all die wichtigsten Jahre der Kindheit) der Fall ist.
M
ein
Begriff der Heimat besteht nicht aus Orten, sondern aus Menschen.
Hast
Du Dein Wissen mit
anderen Kindern verglichen?
Als
Kind: nie.
Die anderen Kinder
haben das Umgekehrte auch nie versucht.
Wie unnatürlich die
schulische Gewohnheit des Vergleichens ist, können sich
(ehemalige) Schulkinder
nicht vorstellen! (Und wie absurd das Vergleichen so unvergleichbarer
Dinge wie
das persönliche Wissen!).
Ich
habe mich bei
Gelegenheit erkundigt, was die anderen Kinder in der Schule den ganzen
Tag lang
so tun… und bemerkte einfach, daß ihren
Eltern das Ganze wichtig war, ihnen selbst aber in 99% der
Fälle eine Last,
die sie vom Spielen abhielt (sie konnten jeweils nur wenig spielen,
weil sie
entweder in der Schule waren, oder mit Hausaufgaben beschäftigt).
In den gemeinsamen
Momenten war für mich nur auffällig, wie wenig sie vom wahren
Leben wußten oder
beherrschten – ein Effekt ihrer täglichen Aussperrung...
Wie
reagieren
Menschen darauf, dass Du nicht zur Schule gegangen bist?
Die
erste Reaktion
aller anderen Kinder war ausnahmslos: "Mensch!! Hast du
Schwein!!".
Das gab mir sehr früh
schon eine klare Vorstellung davon, wie privilegiert ich war.
Die Reaktion der "Erwachsenen" kann
man in drei Kategorien unterteilen:
Einige sagen
selbstsicher "Aha, Du kriegtest Privatunterricht." Damit wäre der
Fall für sie
erledigt: sie brauchen sich gar nicht mit der Tatsache
auseinander zu setzen, daß
der Unterricht überflüssig oder gar schädlich ist.
Wenige
reagieren
allergisch. Sie drohen mir immer mit denselben fünf Argumenten,
hören keine
Antworten und stellen sich nicht einmal vor, daß ihre Weise mich
schockieren
könnte, da meine Begriffe, die den ihrigen entgegengesetzt sind,
meine Realität
bestimmen. Als Kind blieb mir das natürlich erspart. Heute stehe
ich zur
Diskussion bereit.
Die meisten Menschen
werden aufmerksam und fragen teilnehmend nach, da sie selbst
unglückliche
Schulkinder oder Eltern, vielleicht auch frustrierte Lehrer sind. Wegen
ihrer
Neugierde, aus ihrem Interesse heraus habe
ich angefangen, mich selbst mit dem Thema zu beschäftigen und
meine Tätigkeit
als Zeuge und Referent aufzunehmen. Sonst hätte ich nicht
darüber nachgedacht
und hätte weiterhin meinen Alltag selbstverständlich gelebt,
ohne mir Fragen zu
stellen, was viele unbeschulte Kinder tun – und das ist legitim.
Was hast Du am Leben ohne Schule besonders
genossen?
Ich
habe mein
Leben
ohne Schule genossen und tue dies weiterhin.
Das
Leben ohne Schule
war für mich der Alltag und keine Ausnahme. Daher
ist diese Frage
in meinem Fall irgendwie unzutreffend…
Es
gibt schon Dinge,
die ich besonders mochte, aber es war mir damals nicht bewußt,
daß das "Leben
ohne Schule" sie möglich machte.
Am
Leben ohne Schule
"besonders genossen" hätte ich Dinge, wenn mich andere weniger
erfreut hätten.
Das, was man zu Hause gerne tut, im Verhältnis zu dem, was man in
der Schule
ungern erledigt, kenne ich einfach nicht…
Was
machst Du heute
beruflich?
Ich bin Gitarrist.
Komponist. Gitarrenbauer. Informatiker. Fotograf.
Ich schreibe gerne und
oft. Ich halte Vorträge.
Unter anderem.
Da ich mich nicht mit
15 Jahren für eine bestimmte Ausbildung entscheiden mußte,
konnte ich mich im
Laufe der Jahre in vielen Bereichen spezialisieren.
Sie
sind kein "Job",
kein "Hobby". Ich nenne sie "meine Berufe". Ich liebe sie. Sie werden
von
meiner Kompetenz bestimmt, nicht von einer steril erworbenen
Qualifikation. Das
ist schlussendlich, was im Berufsleben zählt.
Wie hat sich für Dich der Übergang
in die
Arbeitswelt gestaltet?
Für mich gab es
keinen
solchen deutlichen Übergang.
Alles war so
natürlich!
Die angeblich normalen Oppositionen zwischen Arbeit, Freizeit
(Erholung),
Privatleben und Berufswelt sind bei uns irrelevante Begriffe. Sowie
Spiel,
Ernst, Leben, Lernen usw. bei uns nicht getrennte und nicht trennbare
Bereiche
sind. Mit 17 war ich schon beruflich tätig, aber das kann ich erst
im
Nachhinein feststellen.
Hast Du Dir
rückblickend jemals gewünscht, Du hättest ganz normal
die Schule besucht?
Kein einziges Mal.
Weil ich die verschiedenen
Lebenssituationen ganz anders angehe als Schulkinder, gibt es auch
keine
einzige Lage, in welcher ich ihre Mittel vermissen könnte. Anders
gesagt: sie
gehen alle durch dieselben Tore und brauchen deshalb dieselben
Schlüssel. Ich
gehe andere Wege.
Ich würde den Schulweg ermangeln,
wären die schulischen Maßstäbe in meinem Leben
relevant. Da ich sie nie gebrauche,
um mein Leben zu untersuchen, haben sie logischerweise keinen
Einfluß darauf. Wenn ich morgen Arzt werden
möchte (ginge der Traum der meisten Eltern in Erfüllung, so
bestünde die
Planetenbevölkerung aus lauter Ärzten, Anwälten,
Architekten und Ingenieuren!)
stehen mir zwei Möglichkeiten zur Verfügung:
Entweder
entscheide ich mich –
als erwachsener Mensch, der für sich bestimmt – für den
klassischen Weg und
nehme das klassische Studium in Kauf und in Angriff: von der Matura bis
zum
Diplom, nichts kann mich daran hindern, und ich bin überzeugt,
daß ich alle
Examen brillant bestehen würde, weil ich von Wille und
Begeisterung getragen
wäre. Oder, in der Logik
meines
bisherigen Lebens, entscheide ich mich für eine alternative
Medizinform, in
welcher die Ausbildung ganz anders aussieht und – wieder! – die
Kompetenz und
nicht die Qualifikation zählt.
Ich bin meinen Eltern jeden
Tag dankbar dafür, daß sie mir ermöglicht haben, ein
freier, glücklicher Mensch
zu werden, und werde meinen Kindern die gleiche Entfaltung
gewähren.
Warum? Aus diesem
Grund: wenn
du findest, das genmanipulierte Nahrung schädlich ist, so gibst Du
sie Deinen
Kindern nicht. Es gibt da keine halbe Überzeugung, und auch kein
Zweifeln…