Lasst uns begeisterte Lerner sein!

Anke Caspar-Jürgens präsentiert Argumente einer kanadischen Homeschoolerin und kommentiert Pläne zur Bildungsreform.

Wer nicht erlebt hat, wie das Lernen von Kindern, auch der Erwerb von anspruchsvollem Wissen, zu Hause stattfindet, hat meist viele Fragen, wie und ob das möglich ist. Das ist auch in Ländern so, in denen Home-Education legal ist, denn die Institution Schule gilt überall als die Norm. Diana Sandberg aus British Columbia, deren Kinder zu Haus gelernt haben (jetzt, als Teenager, möchten sie in eine Schule ihrer Wahl gehen), hat in einem fiktiven Interview alle Fragen zusammengefasst, die ihr in der Regel zu diesem Thema gestellt werden. Der Beitrag erschien erstmals im kanadischen „Homeschooling Magazine“ im Jahr 1997. In der Folge verwende ich anstelle von Home-Education die deutsche Übersetzung „Bildung zu Hause“.

Lasst uns begeisterte Lerner seinFrage: Ist Bildung zu Hause legal?

Anwort: In British Columbia ja. Kinder, die zu Hause unterrichtet werden, werden registriert. Das ist ein einfacher Vorgang.

Bist du eine Lehrerin, wo du doch deine Kinder zuhause unterrichtest?

Eigentlich ja, aber ich habe keinen Abschluss als Lehrerin. Ein ziemlich hoher Prozentsatz der Eltern, die Bildung zu Hause praktizieren, sind Lehrer oder frühere Lehrer. Viele berichten, dass ihre Ausbildung eher ein Hindernis ist, da Bildung zu Hause so anders ist. Wenn du dich nicht mit 25 bis 30 Schülern gleichzeitig beschäftigen musst, entfällt der enorme Balanceakt, den Langsamen zu helfen, die Schnellen zu stimulieren und gleichzeitig noch die Widerspenstigen zu überzeugen und die feindlich Gesinnten zu zähmen. Interessanterweise zeigen akademische Studien keinen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau der Bildung-zu HauseEltern und der Anzahl der von ihren Kindern erreichten Punkte.

An dieser Stelle möchte ich einige Worte für die Lehrer einlegen. In der Regel haben Bildung-zu-Hause-Eltern keinen Streit mit den Lehrern. Meine eigenen Eltern sind beide Lehrer – Lehrer leisten eine Menge, opfern ihre freie Zeit. Die meisten Lehrer sind engagierte Leute mit einem schwierigen Job. Ich kenne keinen Bildung-zu-Hause-Menschen, der mir da widersprechen würde. Unsere Bedenken beziehen sich auf das Schulsystem, nicht auf die Leute, die ihr Bestes innerhalb des Systems geben.

Befürchtest du nicht, dass die Kinder zurückbleiben? Woher weißt du, wie gut sie ihre Sache machen?

Diese Frage macht mich immer traurig. Sie sagt eine Menge über die Distanz von Familienmitgliedern aus. Mein Arzt weiß viel mehr als ich über Krankheiten, und trotzdem bringe ich meine Kinder nicht jeden Tag zu ihm, um zu wissen, ob es ihnen gut geht oder nicht. Ich bin mit meinen Kindern jeden Tag zusammen. Ich sehe, wie es ihnen geht. Ich weiß, wann sie mit einer Idee oder Technik ringen, und bin bereit, ihnen zu helfen, wenn sie es wünschen. Sitzenbleiben ist die Folge davon, dass das Lernen nach einer festen Reihenfolge erfolgt. Schulen folgen dem bestimmten Lehrplan – aus dem gleichen Grund, aus dem Anzüge nach einem bestimmten Plan in einer Fabrik hergestellt werden – es ist der einzige funktionierende Weg, um einen hohen Ausstoß von gleichen Produkten zu erreichen. Ein Anzug von der Stange mag den meisten Leuten ziemlich gut passen, aber wenn dein Körper in irgendeiner Weise nicht Standard ist, dann ist es hoffnungslos. Ein maßgeschneiderter Anzug würde dir immer am besten passen. So ist es auch mit dem Lernen. Kinder lernen gern. Wird ihnen Freiheit, Ermutigung und Zugang zu Informationen gegeben, lernen sie so viel, wie in ihren Kopf hineingeht, und so schnell, wie sie das Bedürfnis verspüren, etwas wissen zu wollen. Aber sie werden es nicht in der Reihenfolge tun, wie du es erwartest.

Um die Frage auf andere Art und Weise zu beantworten: Kinder, die zu Hause unterrichtet werden, erreichen eine gute Punktzahl in Standardtests. Eine Studie im Staat Washington analysierte 2911 Tests (Stanford Achievement Series), geschrieben von zu Hause gebildeten Kindern. Die durchschnittliche Punktzahl lag bei 65% bis 68%, bedeutend höher als der landesweite Durchschnitt (50%).

Das Lernen der Kinder zu betreuen ist doch sicherlich sehr zeitaufwendig?

Ja und nein. Es erfordert einen Elternteil, der zu Hause ist. Das bedeutet aber nicht, dass dieser den ganzen Tag lehrend im formalen Sinne verbringt. Es gibt viele verschiedene Arten von Bildung zu Hause – einige Familien haben tägliche Unterrichtsstunden zu einer bestimmten Zeit, andere strukturieren ihren Unterricht weniger. Eine Frau, die ich kenne, unterrichtete zu Hause fünf Kinder (drei davon waren von ihrer Schule als lernbehindert eingestuft gewesen) nach folgendem Plan: nachdem die Familie gemeinsam die morgendlichen Hausarbeiten erledigt hatte, setzten sie sich von 10 Uhr bis 12 Uhr zusammen. Nach dem Mittagessen hatte jeder den Nachmittag frei für seine eigenen Zwecke. Das taten sie viermal die Woche von Oktober bis März. Alle Kinder sind jetzt erwachsen, und es geht ihnen gut. Unsere eigene Familie tendiert mehr zur unstrukturierten Seite des Spektrums. Wir lesen viel, zusammen und jeder für sich. Manchmal möchte sich ein Kind mit den Arbeitsbüchern beschäftigen, eine Reihe davon steht an der Ecke meines Schreibtischs, und die Kinder erfreuen sich daran, von Zeit zu Zeit damit zu arbeiten. Oft diskutieren wir interessante Zahlensachverhalte, historische oder gegenwärtige Ereignisse während der Mahlzeiten oder im Auto. Wir gehen in die Bücherei, ins "Science World" (Ausstellungszentrum für Kinder und Erwachsene) oder ins Schwimmbad. Wenn wir zu Hause sind, bin ich ganz von meinen eigenen Projekten in Anspruch genommen und die Kinder beschäftigen sich mit ihren eigenen Sachen. Es ist extrem selten, dass sie mich fragen, was sie machen können.

Eine akademische Studie, die einen Zusammenhang zwischen dem Grad der Strukturierung und den erreichten Punkten bei zu Hause gebildeten Kindern herstellen wollte, konnte keinen finden. Die Kinder waren ziemlich gut, egal ob die Familie sich als sehr strukturiert, total unstrukturiert oder dazwischen einstufte. Dies ist eine meiner Lieblingsstatistiken; sie zeigt, dass es viele richtige Wege gibt, die Kinder zu Hause zu unterrichten, und dass den Familien vertraut werden kann, den Weg zu finden, der für sie am besten ist.

Wie kannst du alles wissen, was sie lernen wollen?

Du kannst es nicht, und du brauchst es nicht. Gesunde, neugierige Kinder haben Interesse an allen möglichen Dingen, über die du kaum nachgedacht hast und worüber du dich nie informiert hast. Das ist die Möglichkeit zusammen zu lernen, und für das Kind die Gelegenheit, das Wichtigste zu lernen, was du es zu lehren hast: wie man herausfindet, was man wissen möchte und wie man dem Wissen nachjagen kann. Das ist viel lebendiger als irgendein bestimmtes Fach, und jedes Thema kann genutzt werden, um dies zu entdecken. Hat das Kind etwas Erfahrung, wirst du merken, dass es schneller ist als du. Denk mal zurück – viele Leute erzählten mir von der schönsten Zeit ihrer Kindheit, – das war dann immer die, in der sie völlig in ein Thema eintauchten – Dinosaurier, Autos, Radios, das Mittelalter oder was auch immer – und mehr darüber wussten als irgendein Erwachsener um sie herum. Meine Kinder verwandelten sich in Piraten, Dinosaurier, Wikinger… vor kurzem bauten wir ein Wikingerdorf aus einem Bastelbuch, ziemlich detailliert und sehr interessant. Danach lasen wir viel darüber. Sonjas Interesse an der Oper hat mich dazu gebracht, eine Saison-Eintrittskarte zu kaufen – etwas, was jemand, der mich kennt, nie für möglich gehalten hätte.

Im Herbst, als sie neun Jahre alt war, entschied sie sich, das Einmaleins zu lernen, und in einem Monat konnte sie es. Ihr Weihnachtsgeschenk für ihren Großvater bestand darin, Multiplikationsaufgaben für ihn im Kopf zu lösen. Allgemein lässt sich sagen, dass die Rolle der Eltern bei der Bildung zu Hause nicht darin besteht, die Quelle allen Wissens zu sein und eine Menge an Wissen in leere, passive Köpfe zu stopfen. Unsere Rolle besteht darin, begeisterte und erfahrene Lerner zu sein, Vorbilder für unsere Kinder, die Unterstützung und Ratschläge geben können und den Transport zur Bibliothek übernehmen.

Haben die Kinder keine Probleme, an der Uni genommen zu werden oder einen Arbeitsplatz zu bekommen?

Das war kein Problem für die mir bekannten Menschen, die sich zu Hause gebildet hatten. Eine vor kurzem durchgeführte Untersuchung über Erwachsene, die zu Hause unterrichtet wurden, zeigte, dass 31% davon Arbeitgeber geworden waren. Viele andere hatten Arbeit für sich selbst kreiert, indem sie sich von Leuten einstellen ließen, jedoch in dem Bereich ihres eigenen Interesses. Zu Hause gebildete Menschen sind ziemlich gut darin, ihren eigenen Weg zu finden. Wie einige von uns aus eigener Erfahrung wissen, kann der Wechsel von der High School, wo einem alles gesagt wurde, was zu tun sei, zur Universität ein ganz schöner Schock sein. Für zu Hause gebildete Menschen jedoch sind deren Methoden ähnlich. Einige Universitäten mit Prestige, wie z.B. die Universität Berkeley, werben aktiv solche Menschen, da sie bisher alle hervorragende Studenten waren. Hier in der Nähe gingen zwei junge Männer, die acht Jahre lang zu Hause unterrichtet wurden, erstmal für ein Jahr auf das Community College. Danach wechselten sie ohne Probleme auf die Universität über. Es ist genau wie mit der Frage nach der Arbeitssuche: Zu Hause gebildete Menschen finden ihren Weg, auch wenn es nicht immer der „normale“ Weg ist, um dahin zu gelangen, wo sie hinwollen.

Du hältst deine Kinder von notwendigem sozialen Kontakt entfernt. Sie werden überbehütet und von der realen Welt isoliert.

Dieses Argument mag ich besonders. Der einzige Teil der realen Welt, welcher meiner Kenntnis nach der Schule ähnelt, ist das Gefängnis oder das Militär. Wo sonst wirst du in willkürliche Gruppen eingeteilt, ständig geprüft bzw kontrolliert, der freien Rede beraubt und bist Objekt kleiner Tyranneien? (Jeder, der jetzt antwortet: „Auf Arbeit“, braucht einen neuen Job!) Meine Kinder leben in der realen Welt. Sie treffen viele Leute, sind sehr offen und sprechen mit jedem. Sie haben auch viele Freunde in ihrem eigenen Alter. Unsere Homeschooling Support Group unternimmt regelmäßige Ausflüge; da sind Eltern und Kinder aller Altersgruppen gemischt. Meine ältere Tochter singt im Vancouver-Bach-Kinderchor und nimmt Zeichenstunden, die jüngere spielt Klavier. Beide sind Mitglieder in einer Kinderzirkusgruppe. Sie haben Zeit für all diese Kontakte mit Leuten, die ihr Interesse teilen, da sie nicht in der Schule sind. Einige Leute sind sich sicher, dass der Prozess der Sozialisation nur in der Schule mittels einer kritischen Masse an Kindern und der Aufsicht durch einen trainierten Professionellen stattfinden kann. Das ist Quatsch. Durch Sozialisierung lernen die Menschen, wie sie sich als Erwachsene zu verhalten haben. Die Kinder während ihrer Kindheit von der Erwachsenenwelt zu isolieren, ist nicht gerade der beste Weg. Die natürliche Sozialisation der Kinder hat zwei Komponenten: das Verhalten der Erwachsenen zu beobachten und dann das auszuprobieren, was sie beobachtet haben. Die heutigen Kinder haben viele Möglichkeiten, ihre sozialen Fähigkeiten im Zusammensein mit anderen Kindern auszuprobieren, aber extrem begrenzte Möglichkeiten, die normale Interaktion von Erwachsenen zu beobachten. An den meisten Orten, an denen Erwachsene ihre Zeit verbringen, sind Kinder nicht gern gesehen. Woher sollen sie also Vorbilder haben?

Manche denken, dass es notwendiges Überlebenstraining für die Kinder ist, wenn sie auf dem Schulhof brutal behandelt werden. Dem widerspreche ich ganz entschieden! Niemand lässt ein Kleinkind auf die Straße gehen, damit es seine Erfahrung mit Autos machen kann. Viele Studien zeigen, dass Kinder, die sich in einer sicheren Umgebung charakterlich festigen konnten, in sich ruhende und ausgeglichene Erwachsene werden, während solche, die brutal behandelt wurden, später entweder Opfer oder selbst Rohlinge werden.

Was willst du eigentlich? Wir sind alle zur Schule gegangen – und wir sind in Ordnung!

Denkst du wirklich so? Ich denke, dass wir als Gesellschaft bestimmt nicht in Ordnung sind und dass das viel mit der Schule zu tun hat. Wir sind ein zerstückelter, narzisstischer Haufen mit einer starken Tendenz, sich der Autorität eines Experten zu unterwerfen. Wir bringen wenig Leidenschaft für andere auf, besonders für andere Generationen. Alte Leute werden weitgehend missachtet, Kinder geringgeschätzt. In jeder Schulgeneration wird den Kindern mehr und mehr vom Leben genommen. Kinder verbringen heute mehr Zeit in der und für die Schule als noch zu deiner Zeit; du hattest mehr Zeit in der Familie. Gerade mal vor 100 Jahren war das Schuljahr nur einige Wochen lang. Jetzt erhöht sich die Schulzeit, und die Familien schrumpfen zusammen, so dass Kinder immer weniger Zugang zu anderen Erwachsenen haben, während der Fernseher die zur Verfügung stehende freie Zeit auffrisst. Wenn Kinder vom Leben der Erwachsenen isoliert werden, dürften sie zunehmend vom Gleichaltrigendruck in Anspruch genommen werden. Es ist nicht überraschend, dass Kinder heute nur schwer ihren Platz in der Gesellschaft finden, da sie kaum Erfahrungen mit dem „wirklichen Leben“ haben. Traurigerweise ist vorhersehbar, dass sie ältere Leute ausschließen und ignorieren werden, von denen sie ja selber ausgeschlossen und ignoriert wurden. So schließen sie auch Menschen mit Behinderung aus. Ist das eine gesunde Gesellschaft? Ich denke nicht.“
(Fragen und Antworten von Diana Sandberg. Übersetzung aus dem Englischen von Verena Sachse.)

Spielball der Kräfte

Soweit der Text von Diana Sandberg. Ich schließe mich der Autorin an – ganz sicherlich leben wir nicht in einer gesunden Gesellschaft. Aber diese Gesellschaft hat genügend kreatives Potenzial, um neue Wege zu gehen – wir müssen nur den Mut haben, sie auszuprobieren.

„Deutschland muss schneller lernen“ – ein so überschriebener Artikel aus dem Süden Deutschlands gelangte Anfang Mai in die Ostsee-Zeitung in den nordöstlichsten Teil von Vorpommern. Doris Kesselring von der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft e.V. berichtet darin über einen Vortrag von Dieter Lenzen, Präsident der Freien Universität Berlin. Ich vertiefte mich in den Text, um herauszufinden, welche Weltsicht wohl dahinter stehen mag. Währenddessen höre ich im Hintergrund tonnenschwere multifunktionale Landmaschinen über zig Hektar große, in Monokultur bestellte, golden wogende Getreidefelder rasen. Nach zwei Tagen ist alles bereinigt, gemäht, gedroschen und in gigantischen Silos für die Verschiffung nach Übersee gelagert. Effektiv und preisgünstig – für die Besitzer. Dass die Böden bei dieser Behandlung unfruchtbar werden, machen Dünger und Herbizide wett. Anstelle der früher rund 300 Menschen sind heute nur noch zwei Dutzend Menschen für die Bewirtschaftung der 5000 Hektar des LPG-Nachfolgebetriebs erforderlich. In unserer Region liegt die reale Arbeitslosigkeit stellenweise bei 80%. Die Menschen, die vor der Wende auf diesen Flächen ihre Arbeit hatten, haben aus ihren Gemüsegärten Zierrasen gemacht und größtenteils ihr Kleinvieh abgeschafft. Sie tragen ihr spärliches Geld für Gemüse usw. in den Supermarkt zu Nestlé und anderen Gewinnern der Globalisierung. Der Zusammenhalt der Menschen, ihre gegenseitige Anteilnahme und Unterstützung werden dünner – den Platz nehmen Fernseher und das Videogerät ein.

Ich wende mich wieder Dieter Lenzen zu und überlege mit gemischen Gefühlen, wie sich seine Vorschläge wohl auswirken werden. „Mit vier zur Schule, Abitur mit 17 und mit 21 Studium beenden. So könnte 2020 der Weg eines jungen Menschen aussehen, wird das ‚Zukunftskonzept Bildung neu denken‘ umgesetzt.“ (So heißt die Bildungsstudie, an der er im Auftrag der bayerischen Wirtschaft mitgewirkt hat.) „… Ein Drittel der deutschen Erwerbsbevölkerung wird 2020 über 50 Jahre sein … Der demografische Wandel stellt auch das Bildungswesen vor Herausforderungen. Bildung wird (über)lebenswichtig für den Wirtschaftsstandort. Es gilt: schneller, besser, mehr und lebenslang lernen. Das System muss radikal umgestaltet werden. … Spätestens mit 21 soll der Mensch dem Arbeitsmarkt ausgebildet zur Verfügung stehen. Dazu muss er frühzeitig die Schulbank drücken, ab vier Jahre fordern die Autoren und rufen Lehrer und Eltern auf den Plan. Die halten das Horror-Szenario der ‚geraubten Kindheit‘ dagegen.

Das Zukunftskonzept plädiert für ein Ende der Schulpflicht mit 14 Jahren. Zunächst sollten Mädchen und Jungen bis zum 10. Lebensjahr gemeinsam die Primarschule besuchen. Dann kämen Sekundarschule und Gymnasium. ‚So hätten sie mit 17 Jahren das Abitur und könnten studieren‘. Der Anteil der Bildung am Bruttoinlandsprodukt müsse von 4,5 Prozent auf 5,5 bis 6 Prozent gesteigert werden, um die Bildungsreform finanzieren zu können. Auch Bürger müssten in die Verantwortung gezogen werden, z.B. über Studiengebühren. … Deutschland müsse wie international üblich Ganztagsunterricht zum Normalfall machen. ‚2020 werden beide Eltern berufstätig sein‘, glaubt Lenzen. Derzeitige Lehr- und Lernmethoden hält er für ‚modernisierungsbedürftig‘, weil sie aus den 60er- und 70er-Jahren stammen. Das Konzept bricht mit Tabus, fordert weniger Ferien, Qualitätsüberprüfung der Lehrer.“

Die Motivation der Wirtschaft, den säumigen Verantwortlichen in der Pädagogik helfend unter die Arme zu greifen, wird noch einmal sichtbar in einem weiteren Beitrag von Renate Dreher, ebenfalls von der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft e.V. Sie zitiert den Vorsitzenden Rodenstock: „… Die Verbände investierten über 60 Millionen Euro in derzeit rund 30 Bildungsprojekte. … Die Unternehmen in Bayern engagieren sich im Bildungsbereich, weil sie Verantwortung für ihre künftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wahrnehmen, und weil Bildung eine entscheidende Stellschraube für wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand ist.“

Ein anderer Staat

Zu Beginn der Bildungskonferenz der Heinrich Böll Stiftung Anfang Juni in Berlin informierte uns Warnfried Dettling, freier Autor in Berlin, über die Struktur institutionalisierter Bildung. Eindrucksvoll schlüsselte er die gemeinsamen Merkmale von Institutionen auf. Ihre Strukturen formen die Gehirne von uns Menschen während der langen Zeit, die wir dort verbringen, in Kindergärten, Schulen, Universitäten, Betrieben, Altersheimen und Krankenhäusern.

Institutionen ziehen eine sichtbare oder unsichtbare Mauer zwischen sich und der sozialen Umwelt. Es halten sich dort zwei sorgfältig voneinander unterschiedene Gruppen auf: Die einen machen etwas mit oder an den anderen, die anderen werden (mit oder gegen ihren Willen) unterrichtet, betreut oder verwahrt, Menschen im Aktiv neben Menschen im Passiv. Institutionen sind auf einen Zweck spezialisiert: Gesundmachen, Wissen vermitteln usw. (Lehrer: „Ich habe studiert, um Wissen zu vermitteln, wir sind doch keine Erziehungsanstalt!“)

„Gerade weil Institutionen die latenten Funktionen sozialer Strukturen systematisch ausblenden, arbeiten sie soziologisch betrachtet suboptimal“, sagt Dettling. „Sie sind nicht gestaltet als Lebensräume mit und für leibhaftige, komplexe Menschen, die in all ihrer Vielfalt, mit ihren Interessen und Leidenschaften miteinander leben, lernen und arbeiten, sondern als staatliche Ein-Zweck-Anstalten, mit dazu passenden Rollen- und Funktionsträgern.“

Im Wesentlichen komme es laut Winfried Dettling darauf an, im Sinn einer demokratischen bürgerschaftlichen Gesellschaft aus einer staatlichen Anstalt eine gemeinsame Angelegenheit der Betroffenen und Beteiligten zu machen. Ihre Aktivierung geschehe über die Verantwortung der einzelnen Person für sich und ihr Leben. Dabei gehe es nicht um mehr oder weniger Staat, sondern um einen anderen, intelligenten Staat, der in der Lage ist, die Nachfrage nach Bildungsgütern gezielt mit „sozialer“ Kaufkraft zu versehen (beispielsweise mit Bildungsgutscheinen) – ein Credo, das von allen Beteiligten der Konferenz nachdrücklich unterstrichen wurde, sogar von den anwesenden Kultusministerinnen und Kultusministern. Konsequenz dieses Bekenntnisses zum Bürgerstaat wäre, dass die politischen Inhaber ihre Macht über die Bildung der Kinder tatsächlich zurücknähmen und endlich auch deutschen Eltern und ihren Kindern als den vorrangig Betroffenen und Beteiligten das Menschenrecht auf Selbstbestimmung ihrer Bildung zugestünden. Aufgabe des Staates bliebe wie bisher seine grundgesetzlich gebotene Pflicht der Begleitung, Unterstützung und der rechtlichen Aufsicht über die Bildung der Kinder, das heißt, er hätte zu gewährleisten, dass jedes Kind die für einen handlungsfähigen Bürger erforderliche Bildung erhalten kann, und dass das Grundgesetz eingehalten wird.

Die UNO-Menschenrechtsdeklaration von 1948 sagt unter Ziffer 3: „Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll.“ Und im Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1952, Art. 2, 1., lesen wir: „Der Staat hat … das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und die Bildung entsprechend ihren religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.“ Bis jetzt werden die Weichen für die Zukunft der Bildung nicht von den Betroffenen gestellt, den Eltern und ihren Kindern.

Wie wünschen wir uns, zu leben, welches sind unsere Werte und Ziele? Sind wir bereit, uns für unsere Kinder und die Zukunft zu engagieren? Das scheint doch fruchtbarer, als uns aus Ratlosigkeit oder Resignation den Entscheidungen der gegenwärtig miteinander ringenden Kräfte aus der Wirtschaft, aus der Politik mit ihren wechselnden Prioritäten, oder den Wissenschaftlern, die mit ihren Forschungsprojekten wiederum auf Wirtschaft und Politik angewiesen sind, zu überlassen.

Erschienen in: KursKontakte, Nr. 134, August/September 2004

Originalfassung des Artikels von Diana Sandberg.
Bundesverband Natürlich Lernen e.V.: Artikel in KursKontakte