Das "Ja" im "Nein" hören
von Inbal Kashtan

"NEIN!" Das gefürchtete Wort ist ausgesprochen worden. Sie haben ihr Kind um etwas Sinnvolles gebeten, wie beispielsweise sich an einem heißen sonnigen Tag mit Sonnenmilch einzucremen. Vor dem Essen seine Hände zu waschen. Seine Schuhe anzuziehen, damit Sie aus dem Haus gehen können. Die Bücher und Kleidung aufzuräumen, die es im Wohnzimmer verstreut hat. Seine Zähne zu putzen bevor es ins Bett geht. Ins Bett zu gehen.

Jedoch hat Ihr Kind – im Alter von einem Jahr, zwei, drei, vier oder vierzehn – seinen eigenen Kopf. Sie lieben diesen Kopf, seine wachsende Unabhängigkeit und sein Durchsetzungsvermögen, seinen Wunsch zu entscheiden, was er tun will und wann. Aber sie wünschten, ihr Kind wäre vernünftig! Sie wünschten, es würde ohne viel Aufhebens tun, was Sie möchten.

Die Kluft zu überwinden zwischen dem, was wir wollen, und dem, was unsere Kinder wollen, kann unsere Geduld und unser Geschick bis an seine Grenzen strapazieren. Erziehungsbücher bezeugen das, da eins nach dem anderen das Hauptaugenmerk darauf lenkt, wie wir unsere Kinder dazu bringen zu tun, was wir möchten – ob durch "effektive Disziplin", Belohnungen, Bestrafung oder durch Dialog. Kurz gesagt – Sie sind nicht allein!

Die Gewaltfreie Kommunikation bietet eine Perspektive und Fertigkeiten, die den Dialogansatz weiterentwickeln, und geht tiefer als irgendein anderer Prozess, den ich kennen gelernt habe. Die Gewaltfreie Kommunikation geht davon aus, dass alles menschliche Handeln ein Versuch ist, unsere menschlichen Bedürfnisse zu erfüllen, und dass Einfühlungsvermögen und Verständnis für diese Bedürfnisse Vertrauen, eine gute Beziehung und – allgemeiner gefasst – Frieden schaffen. Diese Prämisse wird in eine Reihe sehr konkreter und praktischer Kommunikationsmittel umgesetzt, die unsere Fähigkeit fördern, sowohl unsere eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu erkennen und uns in sie hineinzufühlen als auch in die Gefühle und Bedürfnisse anderer. Wenn man die Gewaltfreie Kommunikation durchgängig anwendet (oder auch nur gelegentlich!), kann sie eine tiefe Beziehung, Vertrauen und Kooperation zwischen Familienmitgliedern jeden Alters schaffen.

Betrachten Sie folgende Situation, die mir Shelly, Mutter einer Dreijährigen, geschildert hat:

Manchmal weigert sich Grace, sich in ihren Autositz zu setzen. Wir "zwingen" sie dann hinein. Es geht in diesem Fall auch darum, mein Kind vor Schaden zu schützen. Man könnte auch argumentieren, dass wir einfach den Weg wählen könnten zu warten und nirgendwohin mit dem Auto zu fahren, bis wir sie überreden könnten, sich selbst hineinzusetzen. Wie die meisten Menschen hetzen wir aber ständig von einem Ort zum anderen und zu warten ist sehr selten eine praktische Option. Was können wir tun?

Ein Dialog in der Sprache der gewaltfreien Kommunikation

Ein Dialog in der Sprache der gewaltfreien Kommunikation könnte Shelly helfen, dieses Problem schnell zu lösen. Vielleicht hilft er auch nicht, aber er wird sie auf jeden Fall darin unterstützen, die Art von Beziehung zu Grace zu haben, die sie sich wünscht. Der Schlüssel zur Pflege einer Beziehung im Angesicht eines "Nein" ist, sich vor Augen zu halten, dass ein "Nein" immer ein "Ja" zu etwas anderem bedeutet und als solches der Beginn, nicht das Ende, einer Unterhaltung ist. Wenn Shelly sich die Zeit nimmt, den Kontakt zu ihrer Tochter zu suchen – was die Dinge manchmal schneller in Bewegung bringt – hätte der Dialog sich ungefähr so anhören können:
 
Shelly:
Hey, es ist Zeit, zu Opa zu fahren.
Grace:
NEIN! NEIN! NEIN! 
Shelly:
Hast du Spaß an dem, was du tust und willst weitermachen? (Anstatt das "Nein" zu hören, hört Shelly auf das, wozu Grace "Ja" sagt, indem sie dahinter ihr Gefühl der Freude und ihr Bedürfnis nach Spiel und Wahlmöglichkeit vermutet.) 
Grace:
JA! Ich will weiter im Garten arbeiten! 
Shelly:
Du hast viel Spaß an der Gartenarbeit? 
Grace: 
Ja!
Shelly:
Ich freue mich zu sehen, wie viel Freude du hast. Und ich mache mir auch Sorgen, weil ich gerne meine Verabredungen einhalte. (Anstatt wieder mit ihrem eigenen "Nein" zu kommen, drückt Shelly ihre Gefühle und ihr Bedürfnis nach Verantwortung aus.) Wenn wir pünktlich bei Opa ankommen wollen, dann müssen wir jetzt losfahren. Würdest du dich jetzt in deinen Autositz setzen? (Shelly schließt mit einer Bitte, die Grace wissen lässt, was sie tun kann, um Shelly zu helfen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen.) 
Grace:
NEIN! Ich will jetzt im Garten arbeiten! 
Shelly:
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich freue mich, wenn du etwas tust, woran du Spaß hast, und ich möchte auch gerne einhalten, was ich versprochen habe. (Shelly zeigt Grace, dass sie Interesse daran hat, die Bedürfnisse beider zu erfüllen.) Wärst du bereit, dich in 5 Minuten in deinen Autositz zu setzen, damit wir bald dorthin fahren können? (Shelly bietet eine Strategie an, die die Bedürfnisse beider erfüllen könnte, wieder in Form einer Bitte.) 
Grace:
Ok.

Oder vielleicht war es nicht ganz so einfach…
 
Grace:
NEIN!!! Ich will nicht gehen! Ich will zu Hause bleiben! 
Shelly:
Bist du jetzt SEHR frustriert? Du möchtest entscheiden, was DU tust? (Shelly sucht den Kontakt zu Grace, indem sie Verständnis und Akzeptanz für Graces intensive Gefühle und ihr Bedürfnis nach Autonomie zeigt.) 
Grace:
Ja! Ich will im Garten arbeiten!
Shelly:
Ach so. (Pause) Ich bin traurig, weil ich gerne Pläne machen möchte, die für alle funktionieren. Wärst du bereit, jetzt gleich mit mir über einige Ideen nachzudenken, was wir machen könnten, damit wir beide zufrieden sind? (Wieder drückt Shelly ihr Interesse an der Erfüllung der Bedürfnisse beider aus und lässt sich eine neue Strategie einfallen, die Graces Bedürfnis nach Wahlmöglichkeit und Autonomie erfüllen könnte.)

Abhängig vom Alter des Kindes können Ideen für Strategien, wie man die Bedürfnisse aller erfüllen kann, von den Eltern kommen, mit Rückmeldung vom Kind, oder von beiden. Kinder im jungen Alter von zwei oder drei überraschen Sie vielleicht mit Strategien, wie man die Bedürfnisse aller erfüllen könnte - manchmal innovative und gangbare Wege, die den Erwachsenen nicht eingefallen waren.

Selbst wenn Grace an diesem Punkt noch immer "Nein" sagt, bietet die Gewaltfreie Kommunikation Shelly Möglichkeiten, mit sich selbst und mit ihrer Tochter in Kontakt zu treten. Mit der wiederholten Erfahrung, die einem Kind das Vertrauen gibt, dass Erwachsene sowohl die Bedürfnisse des Kindes als auch ihre eigenen respektieren, wird es langsam aber sicher eine größere Fähigkeit entwickeln, die Bedürfnisse anderer zu berücksichtigen und sich so zu verhalten, dass sie erfüllt werden. Unterdessen wird Shelly entdecken, dass diese Momente günstige Gelegenheiten sind, sich selbst und ihre Kernbedürfnissen in Bezug auf das Elternsein besser zu verstehen, indem sie sich voller Achtsamkeit sich selbst und ihrer Tochter gegenüber verhält.

Strategien mit Bedürfnissen verbinden

Wenn wir die Gewaltfreie Kommunikation einsetzen, konzentrieren wir uns darauf, wie wir all unsere Bedürfnisse erfüllen können. Manchmal werden dabei Entscheidungen zurückgestellt bis wir eine Verbindung zueinander aufgebaut haben, welche die Basis für eine Lösung sein wird. Sobald sie einen Kontakt zueinander aufgebaut haben, fallen Shelly und Grace vielleicht verschiedene Möglichkeiten ein, abhängig davon, welche Bedürfnisse für sie im Vordergrund stehen. Shelly könnte feststellen, dass sie ihrem Bedürfnis nach Verantwortung Genüge tun könnte, indem sie Opa anruft und den Termin um eine Stunde verschiebt. Sie könnte sich auch dazu entscheiden, ihrem Bedürfnis, gehört zu werden, nachzugehen, indem sie ihre Gefühle und Bedürfnisse mit mehr Leidenschaft ausdrückt und versucht, das Verständnis ihrer Tochter zu erwirken. Oder sie könnte Kontakt zu ihrem Bedürfnis nach Harmonie und Behaglichkeit aufnehmen und beschließen, ihre Pläne zu ändern. Wenn die Pläne aus einer klaren Entscheidung für die Erfüllung von Bedürfnissen geändert werden, ist das ein großer Unterschied zum "Nachgeben" und Eingehen auf alle "Launen" des Kindes.

Die Kontaktaufnahme mit Graces Bedürfnissen führt vielleicht zu anderen Strategien. Grace hat vielleicht ein leidenschaftliches Bedürfnis zu spielen, das man eventuell erfüllen kann, indem man Pläne macht, was sie bei Opa tun könnte. Sie hat vielleicht ein starkes Bedürfnis nach Autonomie, das erfüllt werden könnte, indem ihr die Entscheidung überlassen wird, wann sie fertig ist. Sie hat auch das Bedürfnis, einen Beitrag zum Leben anderer zu leisten. Wenn Shelly einen Weg findet, ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken und Grace gegenüber eine klare Bitte äußert, kann sie ihr vielleicht helfen, mit ihren eigenen inneren Bedürfnis, etwas zum Leben anderer beizutragen, in Kontakt zu treten, so dass sich Grace freiwillig in ihren Autositz setzt, anstatt es zu einem "Machtkampf" kommen zu lassen, in dem sie verliert.

Welchen Unterschied macht es, "Ja" zu hören?

Wenn unsere Kinder "Nein" sagen und wir "Nein" hören, bleiben uns zwei oft unbefriedigende Möglichkeiten. Entweder passen wir uns ihrem "Nein" an oder wir setzen uns darüber hinweg. Wenn wir uns dazu entschließen, das "Nein" unserer Kinder in ein Verständnis des "Ja" dahinter umzuwandeln, gewinnen wir tiefere Einsicht in die Motivation des Verhaltens unserer Kinder: Bedürfnisse, die alle menschlichen Wesen empfinden. Ein tieferes Verständnis für unsere Kinder führt normalerweise dazu, dass sich beide Seiten mehr miteinander verbunden fühlen. Menschen, die einander verbunden sind, haben eine größere Fähigkeit, kreativ über Strategien nachzudenken, wie ihre Bedürfnisse erfüllt werden können, weiten ihr Wohlwollen einander gegenüber aus, und können mehr Geduld und Toleranz aufbringen, wenn ihre Bedürfnisse in dem Moment nicht erfüllt werden. In meiner Familie, wie in anderen Familien, die die Gewaltfreie Kommunikation praktizieren, bedeutet das nicht, dass wir immer alles mit Leichtigkeit lösen. Aber es bedeutet, dass wir regelmäßig unsere Beziehung durch diese Dialoge nähren, und dass wir einander immer tiefer mit unseren Gefühlen und Bedürfnissen vertrauen. Das ist die Art von Beziehung, die ich mir für alle Eltern und Kinder wünsche.

Wenn wir auf diese Weise auf das "Nein" unserer Kinder reagieren, bedeutet das zum Teil, dass wir auf die Macht verzichten, die wir über unsere Kinder haben, weil wir unser eigenes "Nein" ihnen gegenüber loslassen (oder zumindest reduzieren). Das bedingt eine Bereitschaft, das Festhalten an unseren Strategien zugunsten des Verständnisses unserer eigenen tieferen Bedürfnisse und der unserer Kinder aufzugeben. Es bedeutet, sich auf die Art von Beziehung zu konzentrieren, die wir mit unseren Kindern haben möchten. Was wir sie lehren möchten und was für eine Welt wir mit ihnen erschaffen möchten, rückt in den Mittelpunkt.

Dennoch bedeutet die Anwendung der Gewaltfreien Kommunikation nicht, dass wir die Erfüllung unserer Bedürfnisse aufgeben müssen. Unsere tiefen menschlichen Bedürfnisse sind wichtig, und wir verfügen über mächtige Werkzeuge, mit denen wir sie erfüllen können: wir können unsere Gefühle und Bedürfnisse mit Leidenschaft zum Ausdruck bringen und lernen, herauszufinden, was uns helfen könnte, unsere Bedürfnisse zu erfüllen ohne dass es auf Kosten unserer Kinder geht. Wir können unsere Bedürfnisse erfüllen, ohne unseren Kindern Vorwürfe zu machen, sie zu beschämen oder von ihnen Fügsamkeit zu verlangen, indem wir mit uns selbst und unseren Kindern in Kontakt treten.

Unsere Kinder um etwas zu bitten anstatt es zu fordern oder ihnen ein Ultimatum zu stellen, birgt eine Gefahr: es könnte sein, dass sie "Nein" sagen, und wir könnten glauben, dass wir das "Nein" akzeptieren müssen. Natürlich haben wir damit nicht viel verloren, weil Kinder auch unsere Forderungen oft mit einem "Nein" quittieren! Wie erfreulich ist es daher, zu entdecken, dass wir – wenn wir das "Ja" hören – die Freiheit erlangen, "Nein" nicht als Antwort anzunehmen. Wir können ein "Nein" – von unseren Kindern, unseren Partnern, uns selbst – als Auftakt zu einem reichen Dialog nutzen, der uns alle einander näher bringt und uns auf den Pfad zur Erfüllung all unserer Bedürfnisse lenkt.
 

© Inbal Kashtan, 2003
 

Auszug aus:

Inbal Kashtan: Parenting from your Heart, 2003
Erhältlich über www.CNVC.org und www.NonviolentCommunication.org.
Abgedruckt mit Erlaubnis von PuddleDancer Press.

Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia.
 
Inbal Kashtan ist Koordinatorin des Elternprojektes für das Zentrum für Gewaltfreie Kommunikation (Center for Nonviolent Communication, CNVC) und lebt in Oakland, California, USA. Sie veranstaltet öffentliche Seminare und Lehrgänge in Organisationen, ist Mitveranstalterin des Ausbildungsprogramms Gewaltfreie Kommunikation und entwirft Lehrmaterial zum Erlernen der Gewaltfreien Kommunikation. Inbals wichtigster Lehrer über die letzten Jahre hinweg war ihr Sohn, der ihr Mentor in Bezug auf die Bedeutung des Lebens ohne Gewalt ist.
 
Weitere Informationen zur Gewaltfreien Kommunikation: