Woher wissen Eltern, deren Kinder keine Schule besuchen, dass sie lernen?
von Jan Hunt

Die Annahme, dass Eltern, deren Kinder keine Schule besuchen, sich über deren Fortschritt wenig im Klaren sind und daher eine formelle Beurteilung dieses Fortschritts notwendig ist, steht im Zusammenhang mit der Tatsache, dass das Leben ohne Schule sich eben außerhalb des Schauplatzes Schule abspielt und dass unsere Einstellungen und Methoden nicht immer richtig verstanden werden.

Woher wissen Eltern, deren Kinder keine Schule besuchen, dass sie lernen? Die Antwort auf diese Frage ist, um es ganz einfach auszudrücken, die direkte Beobachtung. Ich habe nur ein Kind. Wenn ein Lehrer in seinem Klassenzimmer nur ein Kind hätte und er unfähig wäre, die Lesefähigkeiten dieses Kindes zu beschreiben, wäre jeder bestürzt – wie kann ein Lehrer täglich in so engem Kontakt mit einem Kind stehen und etwas so Offensichtliches übersehen? Dennoch sind viele Leute, die mit dem Leben ohne Schule nicht vertraut sind, der Ansicht, dass Eltern, die genau diesen täglichen nahen Kontakt zu ihrem Kind haben, Beurteilung von außerhalb nötig haben, um den Fortschritt des Kindes zu ermitteln. Dies verblüfft Eltern, deren Kinder keine Schule besuchen, weil sie sich nicht vorstellen können, etwas so Interessantes wie das Wesen des Lernens ihres Kindes zu verpassen.

Eltern haben keine 25 Kinder, und daher haben wir die Freiheit, uns auf die Förderung des Lernens zu konzentrieren, ohne ständig durch die zeitraubenden Aufgaben abgelenkt zu werden, die nichts mit Lernen zu tun haben, in einem Klassenzimmer jedoch notwendig sind. Diese Befreiung von Ablenkungen ist der Hauptfaktor für die Schaffung einer lebendigen, kreativen und freudigen Lernumgebung.

Jeder Vater, jede Mutter eines Kindergartenkindes kann Ihnen mit ziemlicher Gewissheit sagen, bis wohin ihr Kind zählen kann und wie viele Farben es kennt – nicht durch Überprüfen, sondern einfach durch viele Stunden des Zuhörens, wenn es Fragen stellt oder redet, und durch die Beobachtung seines Verhaltens. Im Leben ohne Schule setzt sich diese Art von Beobachtung einfach bis in ein höheres Alter und in komplexeres Lernen fort.

Es gibt viele Gelegenheiten im Laufe eines Tages, wo ein einigermaßen neugieriges Kind die Bedeutung bestimmter gedruckter Wörter wissen wollen wird – in Büchern und Zeitungen, am Computer oder im Fernsehen, in Spielanleitungen, auf Verpackungen, auf Post, die gerade angekommen ist, und so weiter. Wenn das Selbstwertgefühl des Kindes intakt ist, wird es nicht zögern, seine Eltern nach der Bedeutung dieser Wörter zu fragen. Durch das Nachlassen von Fragen dieser Art und das tatsächliche laute Lesen bestimmter Wörter ("Schau mal, Papa, dieses Paket ist für Dich!") kann man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass das Lesen in Richtung Lesekompetenz voranschreitet. Dies mag Außenstehenden etwas ungenau vorkommen, aber Eltern, deren Kinder nicht zur Schule gehen, lernen durch Erfahrung, dass ein spezifischere Beurteilung aufdringlich, unnötig und kontraproduktiv ist.

Wenn der Staat die Pflicht zur Beurteilung von Babys einführen würde, um festzustellen, ob sie mit dem Laufen im Zeitplan liegen, würde jeder denken, dass das absurd ist. Wir wissen alle, dass gesunde Babys irgendwann laufen werden und dass es nutzlos und frustrierend wäre, zu versuchen, diesen Prozess zu beschleunigen; es wäre so töricht wie der Versuch, das Blühen einer Rose zu beschleunigen. Gärtner machen sich keine Sorgen über spätblühende Rosen oder messen deren täglichen Fortschritt – sie vertrauen den guten Absichten der Natur, erfüllen die Bedürfnisse der Pflanzen in ihrer Obhut und wissen, dass jeder weitere Eingriff ihr natürliches Wachstum beeinträchtigen würde. Ein solches Vertrauen ist in der Bildung eines Kindes ebenso unerlässlich wie bei der Gartenarbeit. Alle gesunden Rosenbüsche blühen, wenn sie bereit sind, alle gesunden Babys laufen, wenn sie bereit sind, und alle gesunden Kinder in einer Familie von Lesern lesen, wenn sie bereit sind – auch wenn dies eventuell erst im Alter von zehn oder zwölf Jahren ist. Es gibt keinen Grund, diesen Prozess zu beschleunigen oder zu messen.

Der Fortschritt des Kindes verläuft nicht immer gleichmäßig; es kann plötzliche Wechsel von einer Phase in die nächste geben. So kann eine offizielle Beurteilung kurz vor solch einem Wechsel ein unfaires und irreführendes Bild ergeben. Zu einem Zeitpunkt als ich (durch das Nachlassen von Bitten, dass ich Schilder, Aufschriften, etc. vorlesen solle) wusste, dass sich die Lesekompetenz meines Sohnes verbesserte, er aber meines Wissens nach noch nicht fließend lesen konnte, sagte ich ihm eines Abends, dass ich ihm nichts vorlesen konnte, weil ich mich nicht wohl fühlte. Er sagte: "In Ordnung, Du kannst Dich ausruhen und ich lese Dir ein Buch vor." Er las mir daraufhin fehlerfrei ein komplettes Buch vor, auf einem höheren Schwierigkeitsgrad als ich ihm zugetraut hätte.

So geschieht es manchmal im natürlichen Verlauf des Zusammenlebens mit einem Kind, dass wir direktere und spezifischere Information über seinen Fortschritt erhalten. Aber es sollte betont werden, dass dies Teil des natürliches Prozesses der "Beihilfe" zum Lernen des Kindes ist und dass es beinahe immer kontraproduktiv ist, einen solchen direkten Beweis zu verlangen. Hätte ich von ihm verlangt, das Buch zu lesen, hätte er sich eventuell geweigert, weil er die Angst verspürt hätte, die jeder verspürt, wenn er beurteilt wird. Da er aber freiwillig las und seine Korrektheit nicht überwacht wurde, war Angst kein Faktor.

Eltern, deren Kinder keine Schule besuchen, können also gar nicht vermeiden, eine gute allgemeine Vorstellung vom Fortschritt eines Kindes im Lesen oder auf jedem anderen Gebiet zu haben. Ohne das Testen von konkretem Lernen unterschätzen wir vielleicht manchmal zu einem gewissen Grad die Fähigkeiten eines Kindes, aber das bedeutet nur, dass wir unterwegs erfreuliche Entdeckungen machen.

Wenn Eltern von Kindern, die nicht zur Schule gehen, deren Lernen nicht messen, beurteilen und kontrollieren, wie kann das Kind selbst dann wissen, wann es zur nächsten Stufe übergehen soll? Wenn wir einen Gartenbaukünstler fragen, wie eine Rose weiß, wann sie blühen soll, wird er diese Frage nicht beantworten können; es wird darauf vertraut, dass dieses Wissen in die wunderbare Konstruktion des Samens eingebaut ist. Der Zeitplan des intellektuellen Wachstums eines Kindes kann, ebenso wie das Blühen einer Rose, in der Tat ein geheimnisvoller Prozess sein, aber er existiert dennoch, eingepflanzt in jedes Kind bei der Empfängnis. Es gibt keinen Grund, solch einen Prozess von außen zu diktieren, und niemand außer dem Kind hat direkten Zugang zu diesem Prozess. Daher muss die Auferlegung einer künstlichen Struktur notwendigerweise weniger erfolgreich sein als wenn man dem Kind das Steuer überlässt. Das bedeutet, dass jeder Versuch, diese Festlegungen von außen zu machen, reine Spekulation ist, und es ist unwahrscheinlich, dass sie der wirklichen Entfaltung der Interessen und Fähigkeiten im Kind entsprechen.

Jason, obwohl etwas "spät" im Laufen (17 Monate) und im fließenden Lesen (7 Jahre), hat sich eines Tages, als er drei Jahre alt war, selbst Quadratzahlen und Quadratwurzeln beigebracht. Wie hätte ich ahnen können, dass er an diesem Tag für dieses Niveau der Mathematik bereit war? Hätte ich ihm einen Standard-Lehrplan aufgezwungen, hätte ich ihn vielleicht von der frühen Mathematik abgehalten und mehr Gewicht auf das Lesen gelegt, und mit welchem Ergebnis? Er beherrscht nun beide Bereiche, und hat viel Spaß daran. Im Endeffekt war es egal, dass er auf zeitlich unterschiedlichen Wegen zur Beherrschung dieser Gebiete gelangt ist. Wie John Holt bemerkte sind Kinder keine Züge. Wenn ein Zug nicht pünktlich am Bahnhof ankommt, wird er die Endstation mit Verspätung erreichen. Aber ein Kind kann an jeder "Station" verspätet ankommen und sogar den ganzen Verlaufsweg des Lernprozesses ändern, und dennoch in einer guten Zeit die Beherrschung aller Bereiche des Lernens erreichen.

Das Kind, das keine Schule besucht, weiß nicht nur, was es lernen muss, sondern auch, wie es dies am besten lernen kann. Jason hat sich immer originelle Wege ausgedacht, zu lernen, was gerade im Vordergrund seines Interesses stand. Seine Methode, Quadratzahlen und Quadratwurzeln zu lernen – Reihen und Spalten von Punkten auf Papier – wäre mir nie in den Sinn gekommen, selbst wenn ich richtigerweise vermutet hätte, dass er in dem frühen Alter für dieses Thema bereit war. Im Alter von 6 Jahren betrachtete er einen neuen Globus und machte ein Spiel daraus, zu raten, welches von unterschiedlichen Paaren von Ländern eine größere Fläche umfasste, eine größere Bevölkerungszahl hatte, und so weiter. Diese Art von Spielen fand ständig statt; seine Kreativität, interessante Lernmethoden zu entwerfen, übertraf bei weitem die meinige, und ich habe noch nie einen einzigen Gedanken an Motivation verschwendet. Mein Kind ist nicht einzigartig; viele Eltern von Kinder, die nicht zur Schule gehen, haben von genau dieser Art von Kreativität und Freude berichtet, mit der ihre Kinder lernen.

Jason hatte keinen Unterricht im konventionellen Sinne. Er hat sich selbst Lesen, Schreiben, Rechnen und Naturwissenschaften beigebracht, mit Hilfe, wenn er sie brauchte und darum bat. Diese Fächer werden jedoch nicht als separate Kategorien behandelt, sondern als Teile des Themas, das gerade von Interesse ist. Meine Rolle ist nicht die eines "Lehrers" gewesen, sondern die eines Vermittlers. Ich bin genauso wenig nur ein passiver Beobachter. Wenn er eine Frage stellte – was er jeden Tag viele Male tat, beantwortete ich sie so gut ich konnte. Wenn ich es nicht konnte, wurde ich zum Forscher: ich tätigte Telefonanrufe, half ihm, die Enzyklopädie zu benutzen, begleitete ihn zur Bücherei oder fand jemanden mit Erfahrung auf dem Gebiet, von dem er lernen konnte; was auch immer ihm half, die Antwort zu finden. Dies war nicht nur hilfreich, um seine speziellen Fragen zu beantworten, sondern hatte auch im allgemeineren Sinne Vorbildfunktion für die vielen Möglichkeiten, wie man an Informationen gelangen kann. Das heißt, unabhängig von den speziellen Themen, die behandelt wurden, war unser übergeordnetes Lernziel immer "wie man lernt" und "wie man sich Informationen verschafft".

In einem Zeitalter der "Informationsexplosion" ist es nicht länger von Bedeutung oder realistisch, das Auswendiglernen von bestimmten Fakten zu verlangen. Diese Fakten sind nicht nur bedeutungslos für das Kind, wenn sie nicht zufällig mit seinen eigenen aktuellen und einzigartigen Interessen übereinstimmen, solche Fakten sind einfach zu zahlreich, und viele werden sowieso bis zu dem Zeitpunkt, wenn es erwachsen ist, überholt sein. Wenn ein Kind aber lernt, wie man Informationen erhält, kann es diese Fähigkeit sein ganzes Leben lang anwenden.

Obwohl wir das Leben ohne Schule nicht aus religiösen Gründen gewählt haben, waren wir immer froh über die Zeit, die wir zur Verfügung hatten, um Fragen der persönlichen Ethik nachzugehen und Werte wie Freundlichkeit, Ehrlichkeit, Vertrauen, Kooperation, kreative Problemlösung und Mitgefühl für andere zu fördern. Dies ist ein wichtiger Teil unseres "Lehrplans". Wir haben es auch genossen, am Morgen Zeit zu haben, Träume der vergangenen Nacht und Pläne für den vor uns liegenden Tag zu diskutieren, zu einer Zeit, wo ich sonst damit beschäftigt gewesen wäre, ihm zu helfen, sich für die Schule fertig zu machen. Da wir glauben, dass das moderne Leben schon übermäßig hektisch ist, versuchen wir soweit wie möglich, in unserer Familie Raum zu schaffen für ungehetzte Zeit.

Was ich oben beschrieben habe, wird manchmal 'unschooling' genannt, wo die aktuellen Interessen des Kindes den Lehrplan bestimmen und die Eltern nicht als Lehrer fungieren, sondern als Tutoren und Materialassistenten. Diese Methode, einer der vielen Ansätze für das Leben ohne Schule, wird oft missverstanden, weil es sich auf Annahmen stützt, die sich sehr von den unausgesprochenen Annahmen des konventionellen Schulwesens unterscheiden.

Das Leben ohne Schule wird häufiger dadurch definiert, was wir nicht tun; wir "lehren" nicht; wir zwingen niemandem einen willkürlichen, künstlichen Lehrplan auf; wir strukturieren die Stunden unseres "Schultages" nicht. Lassen Sie mich beschreiben, was wir tun:

Wir beantworten Fragen. Viele von uns glauben, dass dies der wichtigste und entscheidendste Aspekt eines erfolgreichen Lebens ohne Schule ist.

Wir fördern kreative und kooperative Lösungen zu Problemen, die aufkommen.

Wir spüren Quellen und Informationen auf, um die Interessen zu nähren, die das Kind gerade erkundet.

Wir versuchen, durch die täglichen Entscheidungen, die wir treffen, die Vorzüge von inneren moralischen Werten wie Freundschaft, Ehrlichkeit und Verantwortung zu veranschaulichen.

Wir sind durch unsere eigenen Diskussionen, durch unser Lesen und die Erforschung von Dingen Vorbild für die Freuden des Lernens.

Während es für Familien, deren Kinder konventionelle Schule besuchen, nicht unmöglich ist, der Art von Aktivitäten nachzugehen, die ich beschrieben habe, ist es einfach schwieriger, dies zu tun, wenn Eltern und Kinder so viel weniger Zeit miteinander haben und wenn selbst die Zeit nach dem Unterricht von Projekten, Hausaufgaben und anderen schulbezogenen Anforderungen beeinflusst wird. Zudem gewöhnen sich Schulkinder daran, emotionale Unterstützung bei Gleichaltrigen zu suchen, und dieses Muster ist schwer zu durchbrechen, selbst außerhalb der Schule.

Anstatt sich vom Leben ohne Schule mit oder ohne Lehrpläne, wobei letzteres immer eine kleine Minderheit darstellen wird, bedroht zu fühlen, täten Pädagogen gut daran, uns als Kollegen und Quellen für Informationen über die Natur des Lernens und über Motivation zu betrachten. Immerhin verbringen wir beinahe all unsere wachen Stunden damit, diese faszinierende Anstrengung zu beobachten, zu studieren und an ihr teilzunehmen. Anders als Schullehrer wird uns auch der Luxus der Kontinuität zuteil: wir beobachten über viele Jahre hinweg, wie sich das Lernen entfaltet, da wir Zeit mit dem gleichen Kind verbringen.

Eltern, deren Kinder keine Schule besuchen, ob sie nun einem Lehrplan folgen oder nicht, und Pädagogen der öffentlichen Schulen verfolgen die gleichen Ziele. Dass wir voneinander abweichende Pfade einschlagen, um diese Ziele zu erreichen, sollte nicht als Hindernis gesehen werden, sondern als Gelegenheit, in kooperativem Geist die einzigartigen Entdeckungen zu untersuchen, die jeder Weg bietet.
 

© Copyright Jan Hunt
 

Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia
Original: www.naturalchild.org/jan_hunt/evaluation.html