Wie fördern wir die natürliche Liebe unserer Kinder zum Lernen?
von Jan Hunt

Als Eltern, deren Kinder nicht zur Schule gehen, fragen sich mein Mann und ich manchmal, wer in unserer Familie mehr lernt, die Eltern oder die Kinder. Das Thema, über das wir scheinbar am meisten lernen, ist die Natur des Lernens selbst. Der Begriff "homeschooling" [in der wörtlichen Übersetzung als "Schule zu Hause"] allerdings hat sich als irreführend herausgestellt. Kinder, die keine Schule besuchen, verbringen nicht ihre gesamte Zeit zu Hause, auch gehen sie an das Lernen nicht auf die gleiche Weise heran wie in der Schule. Vielmehr werden im Leben ohne Schule viele der Annahmen über das Lernen, die man im Unterricht an öffentlichen Schulen vorfindet, ins Gegenteil verkehrt.

Das Hauptelement im erfolgreichen Leben ohne Schule ist Vertrauen. Wir vertrauen darauf, dass die Kinder wissen, wann sie bereit sind zu lernen und was sie lernen möchten. Wir vertrauen darauf, dass sie wissen, wie sie lernen können. Während dies eine überraschende Betrachtungsweise von Kindern sein mag, ist es die Einstellung, die Eltern üblicherweise in den ersten zwei Lebensjahren ihres Kindes dem Lernen gegenüber haben, wenn es lernt zu stehen, zu laufen, zu sprechen und viele andere wichtige Dinge auszuführen, ohne großartige Hilfe von irgendjemandem.

Niemand macht sich Sorgen, dass das Baby zu faul, unkooperativ oder unmotiviert sein wird, diese Dinge zu lernen; es wird einfach angenommen, dass jedes Baby mit dem Wunsch geboren wird, die Dinge zu lernen, die es braucht, um die Welt um sich herum zu verstehen und an ihr teilzunehmen. Diese ein- und zweijährigen Experten lehren uns verschiedene Prinzipien des Lernens:

Kinder sind von Natur aus neugierig und haben ein angeborenes Verlangen, aus erster Hand alles über die Welt um sie herum zu lernen.

John Holt beschreibt in seinem Buch "Wie kleine Kinder schlau werden" [ältere Ausgabe u.d.T. "Wie Kinder lernen"] den natürlichen Lernstil von kleinen Kindern:

"Kinder sind neugierig. Sie möchten die Dinge verstehen, herausfinden, wie sie funktionieren, Kompetenz und Kontrolle über sich selbst und ihre Umgebung erwerben, und sie wollen das tun, was sie andere Leute tun sehen. Sie sind offen, haben ein gutes Wahrnehmungsvermögen und experimentieren gern. Sie beobachten die Welt um sich herum nicht nur; sie schließen sich nicht von der fremden, komplizierten Welt um sich herum ab, sondern schmecken sie, berühren sie, fühlen ihr Gewicht, biegen sie, brechen sie. Um herauszufinden, wie die Wirklichkeit funktioniert, arbeiten sie an ihr. Sie sind wagemutig. Sie haben keine Angst, Fehler zu machen. Und sie sind geduldig. Sie können eine außergewöhnliche Menge an Unsicherheit, Verwirrung, Unwissen und Ungewissheit tolerieren... Schule ist kein Platz, der einem viel Zeit oder Gelegenheit oder Belohnung für diese Art des Denkens und Lernens gibt."1

Kinder wissen am besten, wie sie etwas lernen können.

Wenn sie in Ruhe gelassen werden, wissen sie instinktiv, welche Methode für sie die beste ist. Umsorgende und aufmerksame Eltern lernen bald, dass es gefahrlos und angebracht ist, diesem Wissen zu vertrauen. Solche Eltern sagen zu ihrem Baby: "Oh, das ist interessant! Du lernst, rückwärts die Treppe hinunterzukrabbeln!" Sie sagen nicht: "Das ist der falsche Weg." Eltern mit guter Beobachtungsgabe sind sich bewusst, dass es viele verschiedene Wege gibt, etwas zu lernen, und dass sie darin vertrauen müssen, dass ihre Kinder wissen, welche Wege für sie die besten sind.

Kinder brauchen eine reichliche Menge an stiller Zeit zum Nachdenken.

Die Forschung zeigt, dass Kinder, die gut im Fantasieren sind, besser lernen und besser mit Enttäuschungen fertig werden als solche, die diese Fähigkeit verloren haben. Aber Fantasie braucht Zeit, und Zeit ist das am meisten gefährdete Gut in unserem Leben. Vollgepackte Schulzeit und außerschulische Aktivitäten lassen den Kindern wenig Zeit zu träumen, nachzudenken, Problemlösungen zu erfinden, mit stressigen Erfahrungen fertig zu werden und einfach das allgemeine Bedürfnis nach Einsamkeit und Privatleben zu erfüllen.

Kinder scheuen sich nicht, Unwissenheit zuzugeben und Fehler zu machen.

Wenn Holt Kleinkinder einlud, auf seinem Cello zu spielen, haben sie das eifrig versucht; Schulkinder und Erwachsene haben ausnahmslos abgelehnt.

Kinder, die keine Schule besuchen, sind frei von der Einschüchterung, sich in der Öffentlichkeit zu blamieren und schlechte Noten zu bekommen, und erhalten sich daher ihre Offenheit gegenüber der Erforschung von Neuem. Kinder lernen, indem sie Fragen stellen, nicht indem sie sie beantworten. Kleinkinder stellen viele Fragen, und auch Schulkinder tun das – ungefähr bis zur 3. Klasse. Bis dahin haben viele von ihnen einen unglücklichen Umstand gelernt: dass es zum eigenen Schutz in der Schule wichtiger sein kann, ihr Unwissen über ein Thema zu verbergen als mehr darüber zu lernen, ohne Rücksicht auf ihre Neugierde.

Kinder erfreuen sich an den wirklichen Werten dessen, was sie lernen.

Man braucht Kinder nicht durch den Einsatz von äußerlichen Belohnungen wie gute Noten oder Sternchen zu motivieren, die dem Kind suggerieren, dass die Tätigkeit an sich schwierig oder unerfreulich ist (warum würde sonst eine Belohnung angeboten, die nichts mit der Sache an sich zu tun hat?). Weise Eltern sagen: "Du hast wirklich Spaß an dem Buch!", nicht "Wenn Du dieses Buch liest, bekommst Du einen Keks!"

Kinder lernen am besten, mit anderen Menschen auszukommen, indem sie mit Menschen jeden Alters umgehen.

Eltern würden ihrem Baby nie sagen: "Du darfst Deine Zeit nur mit Kindern verbringen, deren Geburtstag höchstens sechs Monate vor oder nach deinem liegt. Hier ist ein anderer Zweijähriger, mit dem Du spielen kannst. Ihr dürft Euch anschauen, aber nicht miteinander sprechen!"

John Taylor Gatto, der Lehrer des Jahres des Staates New York, vertritt den Standpunkt: "Es ist absurd und widerspricht dem Leben, mit Menschen genau desselben Alters und derselben sozialen Klasse in Gefangenschaft zu sitzen. Dieses System sorgt auf effektive Weise dafür, dass man von der immensen Vielfalt des Lebens abgeschnitten ist."2

Durch Erfahrung aus erster Hand lernt ein Kind am meisten über die Welt.

Kein Vater, keine Mutter würde zum Kleinkind sagen: "Lass uns die Raupe absetzen und uns wieder Deinem Buch über Raupen zuwenden." Kinder, die nicht zur Schule gehen, studieren die Welt direkt. Unser Sohn beschreibt das Leben ohne Schule als "Lernen durch Tun anstatt durch Belehrtwerden." Ironischerweise ist die am häufigsten geäußerte Kritik am Leben ohne Schule, dass den Kindern "die wirkliche Welt vorenthalten wird".

Kinder brauchen und verdienen ausgiebige Zeit mit ihrer Familie.

Gatto warnt uns: "Kinder verbringen ihre ganze Zeit in der Schule oder vor dem Fernseher. Das ist es, was sie amerikanische Familie zerstört hat."3 Viele Familien, deren Kinder nicht zur Schule gehen, empfinden den Familienzusammenhalt als vielleicht den bedeutungsvollsten Vorteil der Erfahrung. Ebenso wie ich seine ersten Schritte sah und sein erstes Wort hörte, habe ich die Ehre und das Privileg, die Welt und die Gedanken meines Sohnes zu teilen. Über die Jahre habe ich von ihm mehr über das Leben, das Lernen und die Liebe herausgefunden als durch irgendeine andere Quelle. Das Leben ohne Schule ist immer eine Strasse in beiden Richtungen.

Stress beeinträchtigt das Lernen.

Einstein schrieb: "Es ist ein schwerwiegender Irrtum zu denken, dass die Freude am Sehen und Suchen durch Zwangsmittel gefördert werden kann."4 Wenn ein einjähriges Kind beim Laufenlernen fällt, sagen wir: "Guter Versuch! Du hast es bald!" Umsorgende Eltern würden nie sagen: "Jedes Baby in Deinem Alter sollte Laufen können. Ich rate Dir, bis Freitag laufen zu lernen!"

Die meisten Eltern verstehen, wie schwierig es für Ihre Kinder ist, etwas zu lernen, wenn sie gedrängt und bedroht werden oder schlechte Noten bekommen. John Holt warnte, dass "wir schlecht denken und sogar schlecht wahrnehmen, oder überhaupt nicht, wenn wir besorgt sind oder Angst haben... wenn wir Kindern Angst machen, bringen wir das Lernen zum Stillstand."5

Während Babys und Kleinkinder uns viele Prinzipien des Lernens beibringen, haben sich Schulen ganz andere Prinzipien zu Eigen gemacht, die auf die Schwierigkeiten zurückzuführen sind, die das Unterrichten einer großen Anzahl von gleichaltrigen Kindern in einer Zwangsumgebung mit sich bringt. Die Struktur der Schule (Anwesenheitspflicht, von der Schule ausgewählte Themen und Bücher und ständiges Überprüfen des Fortschritts der Kinder) unterstellt, dass Kinder nicht von Natur aus lernen, sondern durch die Bemühungen anderer zum Lernen gezwungen werden müssen.

Natürliche Lerner brauchen keine solche Struktur. Der Erfolg des selbstbestimmten Lernens (Kinder, die keine Schule besuchen, schneiden regelmäßig bei der Messung von akademischer Leistung, Sozialisation, Vertrauen und Selbstwertgefühl besser ab als Gleichaltrige, die zur Schule gehen) deutet klar darauf hin, dass strukturierte Ansätze sowohl das Lernen als auch die persönliche Entwicklung behindern.

Das Leben ohne Schule ist ein Versuch, den Prinzipien des natürlichen Lernens zu folgen und Kindern zu helfen, sich die Neugierde, den Enthusiasmus und die Liebe zum Lernen zu erhalten, die jedes Kind bei der Geburt besitzt.

Das Leben ohne Schule ist, wie Holt schreibt, eine Glaubens- und Vertrauensfrage. "Dieser Glaube ist der, dass Menschen von Natur aus Lerntiere sind. Vögel fliegen; Fische schwimmen; Menschen denken und lernen. Daher brauchen wir Kinder nicht zum Lernen zu motivieren, indem wir sie überreden, bestechen oder drangsalieren. Es ist nicht notwendig, ständig in ihrem Gedächtnis herumzustochern, um sicher zu gehen, dass sie lernen. Was wir tun müssen – und das ist alles – ist: den Kindern so viel Hilfe und Anleitung geben wie sie brauchen, wenn sie darum bitten, ihnen respektvoll zuhören, wenn sie sprechen möchten, und ihnen dann nicht im Weg stehen."6
 

1 John Holt, How children learn (New York: Delacorte Press, 1983), S. 287
2 John Gatto, "Why schools don’t educate", The Sun, Juni 1990, S. 24
3 John Gatto, "Why schools don’t educate", The Sun, Juni 1990, S. 26
4 Albert Einstein, "Autobiographical notes", in Schilpp, Paul Arthur, Albert Einstein : Philosopher-scientist, 1949, S. 3-94
5 John Holt, How children learn (New York: Delacorte Press, 1983), S. XI
6 John Holt, How children learn (New York: Delacorte Press, 1983), S. 293
 

© Copyright Jan Hunt
 

Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia
Original: www.naturalchild.org/jan_hunt/homeschooling.html