Liebe ist der bessere Lehrer
von Pam Leo

”Wie wir ein Kind behandeln, so wird das Kind die Welt behandeln.”
Pam Leo

Können Sie sich vorstellen, Ihrem Partner oder guten Freund zu drohen, indem Sie zählen “Eins… Zwei… Drei…”, wenn er oder sie nicht tut, was Sie wollten? Eins der großen Themen in Schulen ist heutzutage das „Schikanieren“ von Mitschülern. Eltern und Lehrer kämpfen täglich mit der Frage, wie man dieses Verhalten unterbinden kann. Ohne es zu realisieren, bringen Erwachsene ihren Kindern schikanierendes Verhalten bei, indem sie es ihnen vormachen, wenn sie mit ihrer körperlichen Größe oder Kraft drohen, um Kinder dazu zu bewegen, etwas zu tun. Wenn ich eine Mutter oder einen Vater an ein kleines Kind gerichtet zählen höre „Eins... Zwei“, frage ich mich immer, welche Konsequenzen dem Kind angekündigt wurden, wenn die Mutter oder der Vater bei Drei ankommt.

Ist es die Androhung verprügelt zu werden, oder angeschrieen, oder aufs Zimmer geschickt, oder zurückgelassen zu werden (ich gehe ohne Dich) oder sollen dem Kind Liebe und Anerkennung entzogen werden? Wie auch immer die Drohung lauten mag, ich höre selten „Drei“. Wie beabsichtigt erzwingt die Androhung dessen, was bei Drei passieren wird, beim Kind, dass es tut, was auch immer der Vater oder die Mutter vom Kind verlangt. Eltern benutzen Drohungen, um Kinder zur Kooperation zu bewegen, weil Erwachsene uns dies zu oft vorgemacht haben, als wir selbst heranwuchsen. Die meisten von uns kennen die Redensart „sonst...“. Wir taten, wie uns befohlen wurde, weil wir uns vor dem „sonst...“ fürchteten, selbst wenn wir nicht wussten, was sich dahinter verbarg.

Während das Zählen wie eine magische Form der Disziplinierung erscheinen mag, sind Drohungen kein Zaubermittel. Kinder wissen, dass Erwachsenen größer sind und mehr Macht haben als sie. Sie fügen sich nur als Selbstverteidigungsmaßnahme. Wenn Einschüchterung durch unsere Überlegenheit an Körpergröße und Macht der einzige Weg ist, Kinder dazu zu bewegen, zu tun, was wir von ihnen verlangen, was werden wir dann tun, wenn wir nicht mehr größer und stärker sind? Fragen Sie die Eltern von Teenagern, ob die Zählmethode noch funktioniert. Sie funktioniert nicht mehr, und zu allem Überfluss haben die Teenager gelernt, die gleichen Mittel einzusetzen, um andere zu zwingen, das zu tun, was sie verlangen.

Viele Eltern sehen das unkooperative Verhalten eines Kindes als Herausforderung ihrer Autorität. Sobald wir verstehen, dass unkooperatives Verhalten meist durch ein unerfülltes Bedürfnis des Kindes oder durch unrealistische Erwartungen des Erwachsenen entsteht, müssen wir dieses Verhalten nicht mehr so persönlich nehmen. Eltern und Kinder haben oft unterschiedliche Bedürfnisse. Manchmal kollidieren unsere Bedürfnisse oder unsere Zeitpläne mit den Bedürfnissen unserer Kinder. Kinder, die ins Spiel vertieft sind, wollen ihr Spiel nicht unterbrechen, um mit uns zur Bank oder zum Geschäft gehen, bevor diese schließen. Wenn Vater oder Mutter etwas erledigen müssen und das Kind etwas anderes zu tun hat, existiert ein Bedürfniskonflikt. Dieser Bedürfniskonflikt wird zum Machtkampf, wenn Eltern die Macht der Angst einsetzen statt die Macht der Liebe nutzen. Die Bindung oder Beziehung, die Eltern zu ihren Kindern haben, ist eine der wirkungsvollsten „Erziehungsmethoden“. Eine starke Bindung entsteht mit der Zeit, wenn Eltern liebevoll und durchgängig die frühen Bedürfnisse des Kindes erfüllen. Drohungen teilen uns mit: „Was Du denkst, fühlst, möchtest oder brauchst ist unwichtig.“ Drohungen untergraben die Eltern-Kind-Bindung. Wenn wir lernen, für unsere „Bedürfniskonflikte“ Lösungen zu finden, die den Kindern zeigen, dass ihre Bedürfnisse und Gefühle wichtig sind, stärken wir die Bindung und vermeiden viele Machtkämpfe.

Der häufigste Grund für Bedürfniskonflikte zwischen Eltern und Kindern ist Ressourcenmangel. Wenn Eltern mehr Ressourcen hätten, müssten wir das Kind nicht mit zur Bank oder zum Geschäft nehmen, weil eine andere Person beim Kind bleiben könnte. Solange der Ressourcenmangel besteht, werden auch die Bedürfniskonflikte andauern. Solange wir keine Möglichkeit gefunden haben, mehr Ressourcen in unser Leben zu bringen, werden wir andere Wege gehen müssen, um unsere Konflikte zu lösen, wenn wir Kinder nicht länger lehren wollen, sich als Tyrannen aufzuführen. Wenn wir unsere Kinder Liebe statt Hass lehren wollen, müssen wir lernen, in unserem täglichen Zusammenleben mit Kindern Konfliktlösungsstrategien anzuwenden. Genauso wie Kinder das Schikanieren von erwachsenen Modellen lernen können, so können wir ihnen auch Vorbild sein beim Erlernen von Konfliktlösungsstrategien. Wenn Kinder die Fähigkeit erwerben, Konflikte zu lösen, weil sie zu Hause so behandelt werden, werden sie sie auch mit in ihre Beziehungen in der Schule bringen.

Schon kleine Kinder können Konfliktlösung lernen, wenn wir es ihnen vorleben. Ältere Geschwister können lernen, jüngeren Geschwistern ein anderes Spielzeug als Tauschobjekt anzubieten anstatt ihm Spielzeug einfach aus der Hand zu reißen. Wenn zwei Kinder zur gleichen Zeit das gleiche Spielzeug wollen, können wir ihnen helfen nach einer befriedigenden Lösung für ihr Problem zu suchen. Wenn ein Bedürfniskonflikt auftritt, weil Vater oder Mutter Erledigungen machen müssen und das Kind einfach zu Hause bleiben und spielen möchte, können wir sagen: „Lass uns sehen, ob wir einen Weg finden, so dass wir beide bekommen, was wir möchten.“ Vielleicht könnte das Kind das Spielzeug mit ins Auto nehmen oder eventuell können die Erledigungen bis morgen warten. Wenn Vater oder Mutter beschließen, dass es Zeit ist, den Spielplatz zu verlassen, das Kind aber noch länger bleiben möchte, könnte man als Kompromiss vorschlagen, noch fünf Minuten zu bleiben und etwas zu machen, woran das Kind Spaß hat, wenn man nach Hause kommt. Oft ist das Problem nicht, dass das Kind nicht gehen möchte, sondern dass es nicht möchte, dass der Spaß aufhört. Wenn wir Kindern beibringen, dass die Bedürfnisse von allen wichtig sind, indem wir ihre Bedürfnisse ernst nehmen, lernen sie, auch die Bedürfnisse anderer ernst zu nehmen.

Es wird Zeiten geben, in denen wir nicht die Zeit oder die Ressourcen haben, die Bedürfnisse eines Kindes zu erfüllen. Und es wird Zeiten geben, in denen es dem Kind nicht möglich ist zu kooperieren, obwohl wir seine Bedürfnisse ernst genommen haben. In diesen Momenten ist es wichtig zu vermitteln, dass auch Eltern Bedürfnisse haben und dass wir jetzt gehen müssen, obwohl es das Kind unglücklich macht, und dann dem Kind seine Gefühle zuzugestehen. Es ist nie in Ordnung, einem kleinen Kind zu sagen, dass man ohne das Kind gehen werde. Zu drohen, dass man es verlassen werde, versetzt ein Kind in Angst und Schrecken. Wenn ein Kind einen Wutanfall hat, weil man den Spielplatz verlassen will, kann es sein, dass es gar nicht um das Verlassen des Spielplatzes geht. Es mag nur der Tropfen sein, der das Fass der kleinen Frustrationen des Tages zum Überlaufen bringt. Das Kind braucht das Weinen vielleicht, um den Stress des Tages zu lösen. Ein Kind wird viel bereitwilliger wieder nach vorne schauen, wenn wir sagen: „Ich weiß, dass Du traurig bist und es ist in Ordnung, wenn Du weinst.“ Als wenn wir sagen: „Jetzt hör schon auf zu weinen, sonst gebe ich Dir einen Grund dazu!“ Wenn das Kind aufhört zu weinen, wird es sich normalerweise besser fühlen und eher imstande sein zu kooperieren.
Wenn die Bedürfnisse von Kindern erfüllt werden und sie durch nichts verletzt werden, ist es meist eine wahre Freude, mit ihnen zusammen zu sein. Wenn ein Kind auf eine vernünftige Bitte negativ reagiert, müssen wir nach kollidierenden Bedürfnissen Ausschau halten. Sobald wir wissen, dass unsere Bedürfnisse miteinander in Konflikt stehen, können wir beginnen, eine Lösung für das Problem zu finden. Ich habe gelernt zu sagen: „Wenn Du Dich so verhältst, weiß ich, dass etwas nicht stimmt, weil wir einander lieben, und Menschen, die einander lieben, gehen nicht auf diese Weise miteinander um. Kannst Du mir sagen, was Du brauchst oder was Dich verletzt?“ Wenn ich daran denke, innezuhalten und diese simple Frage zu stellen, verändert das die gesamten Umstände des Konflikts. Diese Frage teilt mit: „Ich liebe Dich und was Du fühlst und brauchst ist für mich von Bedeutung.“

Manchmal gibt es keinen Weg, dass die Bedürfnisse beider Beteiligten erfüllt werden. Aber nicht zu bekommen, was wir brauchen, ist viel einfacher zu ertragen, wenn wir auf eine Weise behandelt werden, die uns erlaubt, unsere Würde zu bewahren. Das Zählen teilt einem Kind mit: „Ich bin größer und stärker als Du und Du solltest besser tun, was ich sage, sonst werde ich Dich (auf irgendeine Art und Weise) verletzen.“ Wenn ein großes Kind zu einem kleineren Kind sagt: „Tu, was ich sage, sonst tue ich Dir weh.“, nennen wir das „Schikanieren“. Wenn ein Erwachsener einem Kind das gleiche vermittelt, indem er beginnt zu zählen, nennen wir das Erziehung. Wenn wir Kinder in einer Weise behandeln, die ihnen ihre Würde nimmt, lehren wir sie, wie sie anderen ihre Würde nehmen. Wenn wir verhindern wollen, dass Kinder sich gegenseitig Schikanieren, müssen wir aufhören, die Kinder zu schikanieren. Die Macht der Angst ist einfach und schnell, aber kurzlebig. Die Macht der Liebe erfordert mehr Arbeit und es dauert länger, aber die Kinder werden ihrem Einfluss nie entwachsen.
 

© Copyright Pam Leo
 

Aus dem Amerikanischen übertragen von S. Mohsennia
Original: www.connectionparenting.com/parenting_articles/teaching.html